Cities on the river – German
STADT DER MODERNE,
STADT DER GEGENWART
Im neunzehnten Jahrhundert veränderte Haussmann Paris. Die französische Hauptstadt wurde zu einer neuen Stadt, geordnet durch Avenuen und breite Boulevards, welche die Kommunikation erleichterten und den Fahrzeugen höhere Geschwindigkeiten ermöglichten. Zur Zeit der Industrialisierung durchbrachen viele andere europäische Städte, die seit Jahrhunderten von römisch-mittelalterlichen Mauern umringt waren, ihre enge Fassung, begannen sich auszubreiten und wurden einem radikalen Wandel unterworfen.
Die Stadt wurde der Schauplatz der Moderne, war Symbol des Fortschritts und jener Ort, wo die neuen, der Industrialisierung eigenen Formen von Produktion und Austausch sich durchsetzten.
Das neunzehnte Jahrhundert, das Jahrhundert der modernen Stadt schlechthin, war auch das Jahrhundert der romantischen Landschaft. Caspar David Friedrich stellte die menschliche Figur vor die unendliche Weite dieser Landschaft. Der Mensch – städtisch, Träger des Fortschritts und der Zivilisation – betrachtete die Natur fasziniert und erschuf sich ein zweites Mal in ihrer wilden, ungezähmten Schönheit.
Die heutige postindustrielle Gegenwart definiert sich durch die neuen, von der Globalisierung geschaffenen räumlichen Zusammenhänge. Man kann von der Bildung neuer urbaner Umwelten sprechen, die den Rahmen des traditionellen, im neunzehnten Jahrhunderts geprägten Stadtbegriffs sprengen: Ausgedehnte Zonen intensiver Verstädterung, bestehend aus Erst- und Zweitwohnsitzen, Einkaufszentren, Produktionsanlagen, Häfen, Flughäfen, Themenparks und anderen Zentren für Freizeit und Konsum. Solche Zonen – durch schnelle Verkehrswege miteinander verbunden – bieten die gleichen Güter und Dienstleistungen wie die traditionelle Stadt. Man muss also nicht mehr in der Stadt ansässig sein, um einem städtischen Lebensrhythmus unterworfen zu sein. In der gegenwärtigen globalisierten Gesellschaft treten diese neuen urbanen Räume mit ihren ständig fluktuierenden Strömen von Produktion, Information und Besiedelung, die in ähnlicher Weise wie die Städte an die Dynamik der Weltwirtschaft angepasst sind, zusehends in den Vordergrund. Man gewinnt den Eindruck, dass gegenwärtig ein urbanes Geflecht von gewaltiger Dimension entsteht, dessen Stränge sich derart über den ganzen Planeten legen, dass es bald keinen einzigen Ort mehr geben wird, der sich der Kontrolle durch die Zivilisation entzieht.
Nach der Verbannung des romantischen Paradigmas samt seiner Vorstellung von der idyllischen, weltabgewandten Landschaft, wird der städtische Raum zu einer der Bühnen par excéllence für die künstlerischen Praktiken der Gegenwart. Das Städtische wird jetzt als ästhetisches und kontemplatives Element gesehen, außerdem wird die Stadt zum Brennpunkt kritischer Wahrnehmung und Gegenstand künstlerischer Diskurse mit eindeutig sozialen Implikationen.
Globale Stadt, Lokale Stadt
Die Städte sind Anziehungspunkte und Zentren des Austauschs. Die Globalisierung verwandelt sie in eine nicht vorhersehbare Mischung unterschiedlicher Kulturen und Alltags-Praktiken und verändert so ihre alte, lokale Identität. Einerseits kommt es zu dieser neuen Pluralität, andererseits erfährt die Stadt gleichzeitig eine der Globalisierung geschuldete Homogenisierung bestimmter Formen von Kultur sowie bestimmten Konsumverhaltens. Der Wandel der historischen Stadtkerne ist hierfür paradigmatisch: Die genuin lokale Architektur wird allerorts auf ähnliche Art und Weise restauriert, umstrukturiert und adaptiert um in den Dienst desselben vermassten und auf maximalen Profit ausgerichteten Tourismus gestellt zu werden.
Ist es angesichts all dieser totalisierenden Entwicklungen eigentlich noch möglich bei den Städten von einer lokalen Identität zu sprechen?
Bei jenen Städten, die in dieser Ausstellung thematisiert werden, handelt sich um einige der lokalen Schauplätze der so genannten „mitteleuropäischen Kultur“. Diese war nie eine vereinheitlichte Kultur, sondern immer schon ein Amalgam aus vielen kulturellen Traditionen und Sprachen: magyarisch, germanisch, slawisch, jüdisch…Städte mit einer einzigartigen gemeinsamen Geschichte, die von einer Hymne symbolisiert wird, die man in über zehn Sprachen sang (1); Städte, die Deportationen und Massenmorde in Namen der Überlegenheit eines Volkes über andere erlebt haben; Städte als Zentren von Demokratien, als Zentren totalitärer Staaten und – vor kurzem – als Schauplätze eines weiteren verheerenden Krieges.
Alle diese Städte sind außerdem in eine gemeinsame Geografie gestellt: über sie legt sich der gleiche Winterhimmel mit seiner trüb-dichten, perlfarbenen Patina, es durchschimmert sie das gleiche melancholische und weiche Licht. Vor allem aber sind es die gleichen Wasser, die sie alle durchfließen: Wasser so blau, dass sie einen fröhlichen Walzer anklingen lassen; Wasser so grau und düster, dass sie von verseuchter Natur und von zerstörten Dörfern berichten. Wer weiß, vielleicht lässt sich die Essenz und die Identität aller dieser mitteleuropäischen Städte – so ähnlich, so verschieden – nur im Fließen dieser Wasser erfassen.
Cities on the River
Die Ausstellung präsentiert Werke, die die Stadt als Hintergrund eines Berichts zeigen (die politischen Unruhen in Budapest, im Video von Csaba Nemes) oder wo die Geschichte einer Stadt das Schicksal der Hauptpersonen der Erzählung determiniert (die sagenhafte Geschichte von der Tochter Albert Einsteins und Mileva Marić´, im Video von Helmut & Johanna Kandl). Die Stadt wird als Ort kollektiver Erinnerung gezeigt (Jugendliche aus der Umgebung, die Reste der zerstörten Brücke von Novi Sad als Fußballplatz benutzen, in den Bildern von Dragan Zivancevic) oder als Ort, dessen geschichtliche Erinnerung verloren gegangen zu sein scheint (geisterhafte Eindrücke vom Pavillon des versunkenen Jugoslawiens, in den Fotocollagen von David Maljovic). Es gibt Bilder, die eine bestimmte Stadt erkennen lassen (die Architektur von Bratislava, auf den Fotos von Romana Hagyo, oder der Plan dieser Stadt, in der Collage von Agnesa Sigetovà), und Bilder von anonymen Orten, Winkeln der Peripherie, die zu jener Stadt, die überall sein könnte und von anonymen Massen bewohnt wird, mutieren (Fotos von Kundász Gábor Arion). Manchmal ist der Blick auf eine Stadt dezidiert subjektiv, erhält eine ästhetische Bedeutung und hinterlässt den Eindruck einer gelebten Erfahrung (Gemälde von Milena Putnik), ein anderes Mal aber ist die Positionierung des Künstlers distanziert und die Bilder der Stadt sind Konstrukte (verschiedene Fotomontagen auf Basis desselben Motivs, im Werk von Kramar) oder sie haben dokumentarischen Charakter und werden durch den humorvollen Blick des Künstlers ins Absurde gezogen (Fotos von Martin Kollár). Und neben den Bildern befinden sich die dreidimensionalen Bühnenbilder, zusammengestellt anhand alltäglicher Konsumgüter, Luxusartikel und Wegwerfprodukten, die die Stadt, welche sie hervorbringt, darzustellen scheinen (von Anna Meyer).
Das einzige Werk, das sich nicht spezifisch auf die Stadt bezieht, lässt, eben ganz ohne dass dabei eine Stadt vorkommt, eine Ahnung von jener vielleicht undefinierbaren Identität aufkommen, die allen diesen Städten gemeinsam ist (Installation von Inés Lombardi).
Neben der Fotografie und der Malerei – künstlerische Sprachen, die traditionellerweise dazu gedient haben, die Stadt darzustellen – sind in der Ausstellung auch die neuen digitalen Technologien vertreten. Neue und traditionelle Techniken bilden ein hybrides System wechselseitiger Beeinflussungen. Einige der Gemälde waren im ersten Arbeitsschritt fotografisch festgehaltene Umgebungen, die dann auf Leinwand übertragen wurden, und der Betrachter kann den ursprünglichen Bildausschnitt sowie die durch die Fotografie möglich gewordenen extremen Abstufungen des Lichts erahnen (Gemälde von László Fehér). Auch die Arbeitsweise, die gegensätzlich zu sein scheint, ist in der Ausstellung vertreten: Fotografische Bilder werden in ästhetisierende Atmosphären mit ätherischen, dem Malerischen nahe verwandten Qualitäten gehüllt und so neu geschaffen (Fotos von Budapest, vom Studio des Künstlers, dem Maler Deszö Váli, aus betrachtet). Werkzeuge, die sich aus der neueren technologischen Entwicklung herleiten, ermöglichen bisher nicht gekannte Formen von symbolischer Darstellung der Stadt (Verwendung topographischer Abbildungen von Google Earth im Werk von Nikola Djordjevic); gleichzeitig treten neue narrative Formeln in Erscheinung, deren Ursprung in diesen Technologien zu finden ist (Clips mit Erzählungen, die die Vollständigkeit vermeiden, präsentiert als Loop, im Werk von Csaba Nemes, Fernseh-Dokumentarstil, im Video von H. & J. Kandl, simultane Gesamtschau von Bildern unterschiedlicher Sequenzen, in der Installation von Inés Lombardi, etc.)
Die Stadt wird also erzählt, interpretiert, rekonstruiert und erinnert, wobei die Annäherungsweise von dokumentarischer Distanz, die viel Konzeptuelles und Symbolisches beinhaltet, bis zu einer persönlicheren, autobiographischeren Haltung reicht. Solcherart aus verschiedenen Perspektiven – politisch, sozial, historisch, architektonisch, ästhetisch – betrachtet, lassen sich die Fragestellungen zur global-lokal-mitteleuropäischen Identität der Stadt in jedem der einzelnen künstlerischen Vorschläge wiederfinden, die versuchen, Antworten anzubieten, die bewusst offen gehalten sind. Dies ist das Ziel der Ausstellung.
(1) Claudio Magris: “Danubio”, 1986
(Katalog CITIES ON THE RIVER)
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